Sonntag, 14. September 2008

Das Märchen

Das Problem mit dem Begriff Märchen ist, dass er auf völlig unterschiedliche Weisen verstanden wird. Es gibt zunächst mal Volks- und Kunstmärchen und Moderne Märchen, und selbst in diesen drei kleinen Bereichen gibt es himmelweite Unterschiede, denn das, was wir gemeinhin unter "Volksmärchen" verstehen, gilt vor allem für das europäische Volksmärchen. Und an den "modernen Märchen" scheiden sich sowieso die Geister. Dann gibt es noch die Redewendung "Erzähl mir keine Märchen", und hier meint der Märchenbegriff im Grunde "Lügen(geschichten)", und es gibt das weite Feld fantastischer Geschichten jedweden Medienformats, für die allzuschnell die Bezeichnung Märchen verwendet wird. Zudem gibt es die literaturwissenschaftliche Abgrenzung des Märchens zu ähnlichen Gattungen wie Sagen, Legenden, Mythen und Fabeln.

Der Begriff Märchen ist also ziemlich verwaschen, und letztlich hat jeder eine eigene Vorstellung davon, was unter einem Märchen zu verstehen ist, sprich: ob man den Begriff nun weit oder eng fasst. Das Problem bei einem weit gefassten Rahmen ist allerdings, dass es schnell relativ beliebig und dadurch letztlich nichtssagend wird. Hier nun der Versuch einer engen Definition des Märchens, aufbauend auf Lüthi und Bettelheim.

Charakteristika des Märchens
Wenn man von einem Grundtyp des Märchens ausgeht, dann muss dieses "als Idealtyp aufgefasst werden; die einzelnen Erzählungen umkreisen ihn, nähern sich ihm, ohne ihn je ganz zu erreichen." (Lüthi, Max: "Märchen", 2004, 10. Auflage, S.25)

1. Die Handlung: Es gibt einen Handlungsstrang, um den sich das Märchen dreht, also eine Aufgabe, die bewältigt werden muss. Dies gilt für Volks- wie auch für Kunstmärchen. Beispiele: Hänsel und Gretel wurden im Wald ausgesetzt und wollen zurück nach Hause, Zwerg Nase kämpft um seine Rückverwandlung, Die kleine Gerda will Kai aus der Macht der Schneekönigin befreien,... Diese Handlung läuft stringent, d.h. es gibt keine Rückblenden und keine Ortswechsel. Die Handlung folgt immer dem Helden. (Natürlich gibt es Ausnahmen, z.B. die Szenen mit der bösen Stiefmutter aus "Sneewittchen".) Der Held macht sich auf eine tatsächliche (oder auch spirituelle) Reise und löst dabei nicht nur seine Aufgabe, sondern vollzieht auch eine wichtige Entwicklung.

2. Die Figuren: Die Figuren sind grundsätzlich allgemein gehalten und stereotyp. Sie sind gut oder böse. Auch haben sie (zumindest im Volksmärchen) in der Regel keine Namen. Und wenn Namen auftauchen, dann sind es die zu der Zeit verbreitesten Namen wie z.B. Hans (Deutschland), Jack (England) oder Iwan (Russland). In der Regel sind es Der Prinz, Die Fee oder Der Soldat, die im Märchen auftauchen.

3. Das Achtergewicht: Die jüngste Tochter ist die schönste, der Arme/Benachteiligte ist am Ende der Sieger, usw. Beispiel: Nur das jüngste der sieben Geißlein entkommt dem bösen Wolf.

4. Formelhafte Sprache: Die Märchensprache enthält eine gewisse Formelhaftigkeit ("Es war einmal",...) und wiederkehrende Formulierungen. So gibt die Sprache dem Märchen auch Struktur.

5. Magische Zahlen: Die Zahlen 3, 7 und 12 haben im Märchen eine besondere Bedeutung und treten viel öfter auf als alle anderen. Beispiele: Sieben Zwerge, sieben Geißlein, drei Brüder oder (in Andersens "Feuerzeug") drei Hunde. Auch die Zahlen strukturieren das Märchen. So muss der Held immer drei Aufgaben lösen, und die böse Stiefmutter benötigt drei Versuche und Schneewittchen (vorläufig) zu töten.

6. Magie: In Märchen treten magische Gestalten und Fabelwesen auf, und magische Artefakte mit magischen Wirkungen kommen ebenfalls vor.

7. Isolation: Die Befreiung aus einer Isolation ist grundsätzlicher Bestandteil der handlungsbestimmenden Heldenaufgabe. Allerdings treten Helferfiguren auf und stehen dem Helden zur Seite. Die Helfer sind aber immer auch Außenseiterfiguren. Der mächtige König könnte niemals Helfer sein, wohl aber der Jäger, der (wie der Held auch) allein unterwegs ist, oder die sieben Zwerge, die zivilisationsfern leben.

Wahrscheinlich wird kein Märchen all diese Punkte vollständig erfüllen können. Insbesondere die Kunstmärchen (Andersen, Hauff, u.a.) weichen meist stärker davon ab. Jedoch sind die hier angegebenen Merkmale wesentliche Märchencharakteristika. Wichtig zu bedenken ist auch, dass das Märchen zu den kurzen Gattungen gehört. "Der kleine Hobbit", "Die Brautprinzessin" und "Der Sternenwanderer" haben zwar allerlei märchenhafte Elemente, sind aber bestensfalls märchenhafte Romane. Und: Das Auftauchen einer guten Fee allein ("Idioten", Jakob Arjouni) macht eine Geschichte noch nicht zum Märchen. Aber die Grenze zwischen einem Märchen und einer fantastischen Geschichte ist durchaus fließend. In Anbetracht der Flut von Büchern, Hörspielen und Filmen ist es heute wohl unmöglich, allgemeinverbindliche Kriterien zu finden, die eine eindeutige Festlegung möglich machen.